„Unwürdiges Feilschen“ – Worum es beim Streit um die Flüchtlingskosten geht

Berlin Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im vergangenen Jahr haben weit mehr Menschen Zuflucht in Deutschland gesucht als im Spitzenjahr der Flüchtlingskrise 2015. Damals wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) etwa 890.000 Migranten registriert, 2022 waren es rund 1,3 Millionen Menschen.

Die hohe Zahl ist demnach vor allem auf den Überfall Russlands auf die Ukraine zurückzuführen. Die bisher mehr als eine Million Ukraine-Flüchtlinge erhalten eine Aufenthaltserlaubnis ohne Verfahren.

Anders als bei den Flüchtlingen aus der Ukraine schätzen Experten, dass die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr wohl noch einmal kräftig zulegen wird.

Länder und Kommunen sehen sich aber schon jetzt kaum noch in der Lage, die Neuankömmlinge zu versorgen und zu integrieren. Vielerorts fehlen bezahlbarer Wohnraum, Kitaplätze und Lehrkräfte für Deutschkurse.

Vom Bund-Länder-Gipfel am Mittwoch erhoffen sie sich deshalb eine stärkere Unterstützung durch den Bund: Berlin soll seinen Anteil an den Flüchtlingskosten deutlich erhöhen. Wie dafür die Chancen stehen, zeigt der folgende Überblick:

Worum geht es bei dem Streit zwischen Bund und Ländern über die Flüchtlingskosten?

Länder und Kommunen wollen vom Bund mehr Geld, um etwa Unterkünfte, Kita-Plätze und Integrationskurse zu bezahlen. Der Bund verweist darauf, dass er für 80 Prozent der Geflüchteten etwa 90 Prozent der Sozialleistungen übernehme. Sie kämen aus der Ukraine und erhielten Bürgergeld oder Sozialhilfe. Dafür habe der Bund im Jahr 2022 rund drei Milliarden Euro aufgewendet, 2023 seien etwa fünf Milliarden Euro vorgesehen.

Die Länder entgegnen, das berücksichtige nicht die Kosten für Integration, Betreuung, Kitas und Schulen. Zudem nehme die Zahl der Flüchtlinge zu, die nicht aus der Ukraine kommen und für die Länder und Kommunen die Kosten vollständig übernehmen müssten. Ihre Zahl liege im ersten Quartal dieses Jahres um 80 Prozent über dem Niveau des vergangenen Jahres. Der Bund beziehe sich bei seinen Berechnungen auf die Zahlen des vergangenen Jahres.

Der Bund argumentiert, dass laut Grundgesetz Länder und Kommunen für die Finanzierung der Flüchtlinge zuständig seien und er in den vergangenen Jahren freiwillig Leistungen übernommen habe, die sich im Jahr 2023 über verschiedene Töpfe ohnehin schon auf 15,6 Milliarden Euro belaufen würden.

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Die Finanzminister der Länder bestreiten das. In einem aktuellen Papier der Ressortchefs heißt es: Der bisherige Höhepunkt von Bundesleistungen an die Länder im Rahmen der Flüchtlingsfinanzierung lag im Jahr 2016 bei 9,1 Milliarden Euro.

Nun sei ein Großteil der Leistungen befristet und falle ab 2024 weg. Geregelt sei derzeit lediglich die jährliche Flüchtlingspauschale über 1,25 Milliarden Euro. Im Vergleich dazu hätten die Länder vom Bund in den Jahren 2022 und 2023 dafür 4,5 Milliarden beziehungsweise 2,8 Milliarden Euro erhalten.

Was fordern die Länder?

Die Länder verlangen, zur Zahlung einer monatlichen Pauschale für jeden Flüchtling zurückzukehren. Dieses Modell gab es bis Ende 2021. Die Pauschale müsse aber wegen der stark steigenden Zahlen an Asylbewerbern (ohne Ukraine-Flüchtlinge) und damit gestiegener Kosten von 670 Euro pro Monat auf 1000 Euro angehoben werden, betonen die Länderfinanzminister.

Die Ministerpräsidenten verlangen zudem die vollständige Erstattung der Kosten für Unterkunft und Heizung. Der Bund soll sich überdies an den Ausgaben für die Integration und den Aufwendungen für unbegleitete Minderjährige stärker beteiligen.

Wird sich der Bund der Länderforderung beugen?

Wohl eher nicht, und wie ein Kompromiss aussehen könnte, ist derzeit nicht absehbar. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verwies bisher stets darauf, dass der Bund die Länder bereits „massiv“ unterstütze. Etwa dadurch, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine alle ins Bürgergeld übernommen worden seien. Das heißt, der Bund zahlt für ihren Lebensunterhalt, obwohl eigentlich die Länder zuständig wären.

Die Länder seien zudem finanziell in einer wesentlich besseren Verfassung als der Bund, so Lindner. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dämpfte zuletzt die Erwartungen an mehr Geld.

Der Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion, Christoph Meyer, sieht auch keine Veranlassung, den Ländern eine Pro-Kopf-Pauschale zu bezahlen. Das habe man in der Vergangenheit gehabt, „dazu kehren wir nicht mehr zurück“, sagte Meyer dem Handelsblatt. Der FDP-Politiker erinnerte daran, dass schon mehr als die Hälfte aller Steuereinnahmen an die Länder und die Kommunen gingen, während die Haushaltslage des Bundes angespannt sei.

Das wüssten auch die Länder, die nun endlich ihren Aufgaben nachkommen müssten. „Dazu zählen die Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme und deren Versorgung“, sagte Meyer. Zudem betonte er, dass mehr Geld das Problem der irregulären Migration nicht lösen werde. „Wir brauchen politische Lösungen, nicht noch mehr Geld für die Länder.“

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Stehen die Länder finanziell wirklich besser da als der Bund?

Nach den Zahlen, die das Kanzleramt am Wochenende verbreitet hat, ist das so. „Die Bundesregierung weist darauf hin, dass der Kernhaushalt des Bundes im letzten Jahr ein Defizit von 116 Milliarden aufwies, während die Kernhaushalte der Länder Überschüsse von insgesamt zwölf Milliarden Euro verzeichneten“, heißt es in einer Beschlussvorlage für den Gipfel, die dem Handelsblatt vorliegt. Bei den Kommunen beliefen sich zudem die Überschüsse in den Kernhaushalten im Jahr 2022 auf 2,2 Milliarden Euro. In Kreisen der Länder wurde deshalb der Sinn des Bund-Länder-Gipfels angezweifelt, wenn schon feststehe, dass es nicht mehr Geld geben solle.

Wie sehen Experten den Bund-Länder-Streit über die Flüchtlingskosten?

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, spricht von einem „unwürdigen Feilschen“ auf dem Rücken aller Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen.

Es müsse jetzt dringend eine Lösung gefunden werden, der Gipfel dürfe nicht scheitern. „Kurzfristig sollten Bund und Länder sich die Kosten für die Versorgung und Integration der Geflüchteten teilen, wobei der Bund den größten Teil der Last tragen sollte, da er mehr Möglichkeiten hat, über Steuererhöhungen die zusätzlichen Kosten zu finanzieren“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt.

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Zur Begründung wies er auf die Belastungen für viele Kommunen infolge der Pandemie und der Energiekrise hin. Zudem werde sich die „finanzielle Notlage“ der Gemeinden durch Inflation und deutliche Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst weiter verschärfen.

Der Wirtschaftsweise Achim Truger unterstützte die Forderung der Länder nach einer Pro-Kopf-Pauschale für die Flüchtlingsfinanzierung. „Es hilft nichts, vorzurechnen, wie viel der Bund schon zahlt, denn es geht ja darum, ob die Zahlungen jetzt und in Zukunft bedarfsgerecht sind oder nicht“, sagte Truger. „Vermutlich wären Pauschalen je Geflüchteten sinnvoll, denn dann müsste in Zukunft nicht immer wieder neu verhandelt werden.“

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Geht es beim Treffen der Länderchefs mit dem Kanzler nur ums Geld?

Nein. Bei dem Treffen geht es nicht nur ums Geld. Die Kommunen wollen, dass Asylbewerber mit schlechter Bleibeperspektive in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder bleiben, idealerweise bis zu ihrer Ausreise oder Abschiebung.

Die Argumentation: Dadurch blieben mehr Kapazitäten vor Ort, um sich um Menschen zu kümmern, die länger in Deutschland bleiben. Der Deutsche Städtetag hat zudem vorgeschlagen, der Bund solle selbst Einrichtungen für eine Unterbringung von Flüchtlingen bereithalten.

An Innenministerin Faeser geht außerdem die Aufforderung, vor allem auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass die Zahl der Asylbewerber nicht weiter steigt. Die SPD-Politikerin will sich im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) dafür einsetzen, dass Asylsuchende künftig an den EU-Außengrenzen verlässlicher als bisher registriert und identifiziert werden.

Faeser, die Spitzenkandidatin der SPD für die hessische Landtagswahl ist, hat zudem die stationären Kontrollen an der Landgrenze zwischen Deutschland und Österreich verlängert.

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Die Bundesregierung will überdies sogenannte Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten schließen. Diese Staaten sollen bei der Abschiebung ihrer Staatsbürger, die ausreisepflichtig sind, aber Deutschland trotzdem nicht verlassen, besser kooperieren.

Im Gegenzug soll es für sie Erleichterungen geben, etwa bei Visa für Arbeitskräfte oder Studierende. Auch wird überlegt, Georgien und die Republik Moldau auf die Liste der sogenannten sicheren Herkunftsländer zu setzen. Das sind Länder, bei denen vermutet wird, dass es in der Regel keine politische Verfolgung gibt. Das soll schnellere Asylentscheidungen und Abschiebungen ermöglichen.

Mehr: „Hilferufe werden von der Ampelregierung abgetan“ – Union erhöht mit eigenem Flüchtlingsgipfel Druck auf die Koalition.

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