Dark Tourism: Wenn Gräuel, Tod und Katastrophen Reisende lockt

Wann die Sache mit dem sogenannten Dark Tourism begann, ist nicht ganz ausgemacht: Manche Experten betrachten die Gladiatorenkämpfe der Römer als den Ursprung. Für andere entstand diese Tourismussparte erst während Queen Victorias (1819–1901) Herrschaft in Großbritannien als sich mancher Wächter ein paar Münzen dazuverdiente, indem er Neugierigen Zutritt in die Leichenschauhäuser verschaffte.

Heutzutage sind mit den dunklen Seiten des Tourismus nicht ausschließlich, aber vor allem Standorte von Massenmord und Naturkatastrophen gemeint. Und diese scheinen als Reiseziele derzeit Hochkonjunktur zu haben.

So sagt das US-Marktforschungsinstitut Future Market Insights dem Katastrophentourismus großartige Wachstumszahlen voraus. Für dieses Jahr würden weltweit rund 32 Milliarden US-Dollar (rund 29,8 Milliarden Euro) Umsatz erwartet. Dank jährlicher Zuwachsraten von 2,5 Prozent dürfte der Markt in zehn Jahren demzufolge zirka 41 Milliarden US-Dollar (rund 38,2 Milliarden Euro) erreichen.

Grenzerfahrung und Faszination

Ein Grund, warum dieser touristische Nischenmarkt blüht, ist das Bedürfnis der Besucher, sich mit den dunkleren Kapiteln der Geschichte zu beschäftigen. Es geht also ums Gedenken und Verstehen. Eine andere Ursache ist die menschliche Neugier, die bei furchtbaren Ereignissen oft einen unerträglichen Voyeurismus entwickelt.

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Philip Stone, Direktor des Instituts für Dark Tourism Research der britischen Universität von Central Lancashire erklärt das Phänomen: „Der Zerstörung liegt eine ureigene Faszination zugrunde.“

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Dem Wissenschaftler zufolge trennen Schauerstätten für Besucher das Gewöhnliche vom Außergewöhnlichen. Es gehe um die Grenzerfahrung, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Denn Naturkatastrophen sowie jede Art von Massenmord könnten zu jeder Zeit überall geschehen. Es kann also jeden treffen – unabhängig von Macht, Klasse, Bildung und Einkommen.

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Aus Gründen wie den genannten zu reisen, mobilisiert viele Menschen. Mit rund 1,2 Millionen Besuchern im Jahr 2022 steht Auschwitz zahlenmäßig mit Abstand an der Spitze der Dark-Tourism-Orte.

Die Katakomben von Paris mit den aufgestapelten Gebeinen von sechs Millionen Toten kommen auf eine halbe Million Neugierige pro Jahr, Kambodschas Killing Fields auf knapp 200.000 anreisende Personen. Gelungene Mahnmale des Schreckens sind außerdem Ground Zero in New York und in Japan Hiroshima und Nagasaki.

Knochen von sechs Miollionen Menschen: In den Katakomben von Paris wurden ab 1785 die exhumierten Gebeine von innerstädtischen Friedhöfen abgelegt

Les Catacombes sind ehemalige unterirdische Steinbrüche: Dort wurden ab 1785 die Gebeine von innerstädtischen Friedhöfen abgelegt, die damals geschlossen wurden

Quelle: picture Alliance/Peter Kneffel

Peter Hohenhaus, Betreiber der Website dark-tourism.com, beeindrucken nicht nur Mahnmale. Emotional packte ihn auch die Sperrzone von Tschernobyl mit der Geisterstadt Pripjat. Sein Ortsbesuch sei „eine Zeitreise sowohl in die sowjetische Vergangenheit als auch in eine postapokalyptische Zukunft“ gewesen. Eine Zukunft, in der es „die menschliche Zivilisation nicht mehr geben wird“, sagt er dem Reiseportal Travelbook.de.

Die andere Stätte, die Hohenhaus fast traumatisierte, liegt auf einem Hügel im Südwesten Ruandas. Die Völkermordgedenkstätte Murambi erinnert an das Massaker am 21. April 1994, als dort Hutu-Milizen über 50.000 Tutsi in weniger als einem Tag abschlachteten.

Es war nur eines von vielen Verbrechen jenes Jahres, dem schätzungsweise eine Million Menschen, meist Tutsi, zum Opfer fielen. Murambi erschüttert Besucher, weil sie dort mit Kalk mumifizierte Leichen, denen Grausamkeiten angetan wurden, unverhüllt betrachten können.

Stätte der Killing Fields: Eine Touristin fotografiert Totenschädel in Choeung Ek, wo man dem Massenmord der Roten Khmer an der eigenen Bevölkerung gedenkt

Eine Touristin fotografiert Totenschädel in Choeung Ek in Kambodscha, wo man dem Massenmord der Roten Khmer an der eigenen Bevölkerung gedenkt

Quelle: picture Alliance/dpa/Mak Remissa

Wenn in Ruanda aus westlicher Perspektive Leichen unverblümter und drastischer zur Schau gestellt werden, als es zum Beispiel in Konzentrationslagern der Fall ist, dann spricht Philip Stone vom Unterschied der Kulturen. Dark Tourism erzählt dem britischen Wissenschaftler viel darüber, welches Verhältnis einzelne Gesellschaften zum Tod haben. Und zumindest in vielen westeuropäischen Ländern ist das eher ein Tabu.

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Zwischen Respekt und Würdelosigkeit

Doch unabhängig von allen Kulturdifferenzen balanciert Dark Tourism ständig zwischen Respekt und Würdelosigkeit. Eine genau definierte Grenze gibt es nicht. Voyeuristisches Verhalten und fröhliche Selfies vor Krematorien würden zumindest wohl die meisten Besucher aus Europa verurteilen.

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Aber wie steht es mit den Organisatoren von Katastrophentouren? Noch im August 2022 berichtete die US-Ausgabe von Businessinsider.com, dass auf dem Portal Visit Ukraine geführte Touren durch Kiew, Butscha, Irpin und Charkiw angeboten würden.

„Stadtführung für Mutige“ in der Ukraine

Teilnehmer der „Brave City“-Touren könnten beschossene Gebäude, Bombenreste und zerstörte Militärausrüstung besichtigen, hieß es auf der Website. Zudem müssten sie mit Landminen sowie Luftangriffen rechnen. Die Offerte löste heftige Diskussionen aus, ob es nicht zu früh für diese Art des Tourismus sei. Inzwischen ist der Link zu dieser „Stadtführung für Mutige“ nicht mehr aktiv.

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Von Dark-Tourism-Stätten, an denen Naturkatastrophen Tod und Zerstörung brachten, können Besucher nach Meinung Philip Stones jedoch auch etwas lernen – nämlich die Auswirkungen des Klimawandels. Gut geführte Touren durch solche Gebiete können zudem finanzielle Hilfe für die Betroffenen mobilisieren.

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Davon aber will der im vergangenen Sommer von Waldbränden komplett zerstörte Ort Lahaina auf Maui, Hawaii, vorerst gar nichts wissen. Das Touristenstädtchen zog einst zwei Millionen Touristen pro Jahr an. Doch gegenwärtig schottet sich der ehemals 12.000 Seelen zählende Ort komplett ab.

Von Waldbränden zerstört (Bild vom August 2023): Lahaina auf der Hawaii-Insel Maui

Von Waldbränden zerstört (Bild vom August 2023): Lahaina auf der Hawaii-Insel Maui. Derzeit sind Touristen nicht willkommen

Quelle: picture Alliance / Kyodo

Reisenden wird der Zugang verwehrt, der Anschauungsunterricht in Sachen Klimawandel fällt aus, Lahaina trauert immer noch.

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