Über Nazi-Geister und Hamas-Apologeten, Reflexionen eines alternden Deutschen

-Aufsatz-

BERLIN — In diesen Tagen fällt mir immer wieder ein Erlebnis ein, das offenbar nichts mit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und seinen schrecklichen Folgen zu tun hat. Gleichzeitig ist es so – wenn auch über die verschlungenen Wege meiner Biografie, die größtenteils die einer ganzen Generation war: der sogenannten Babyboomer, die ungefähr zwischen 1950 und 1965 geboren wurden.

Wir waren die stärkste Kohorte der Nachkriegszeit, bis zur „Baby-Pleite“.

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Bald werden wir alle im Ruhestand sein – wir, die ewigen jungen Berufstätigen, für immer jung. Wir waren es, die ihre Eltern immer wieder mit bohrenden Fragen konfrontierten: Was hast du gemacht? Was wusstest du? Warum haben Sie es nicht verhindert? Wie konnte das überhaupt passieren? Schämst du dich nicht?

Wie auch immer die Antworten ausfielen – wir haben damals eine geradezu heilige Verpflichtung, ja ein inneres Gelübde abgelegt, künftig alle Formen von Antisemitismus und Judenhass zu bekämpfen, auch wenn die ganze Vergangenheit nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.


Das moralische Gesetz

Es war Ende September 1982, als wir noch einmal die Sonne Südfrankreichs genießen wollten. Also fuhren wir zum Fluss Gard, der durch die Römer berühmt wurde Pont du Gard. Der Weg hinunter in die einsame Schlucht führte über eine steile, kurvenreiche Schotterpiste, auf der Teile des berühmten Spielfilms zu sehen waren Lohn der Angst (1953) mit Yves Montand verfilmt.

Tagsüber lag ich am Fluss und las Eugen Kogons Buch von 1946 Ter SS-Staat, die erste systematische Untersuchung des Terror- und Vernichtungssystems der nationalsozialistischen Diktatur. Kogon selbst, ein Historiker und überzeugter Christ, war wegen seiner Opposition gegen das Hitler-Regime in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert worden.

Aus heutiger Sicht erscheint es geradezu frivol, dass ich mich in dieser traumhaften Landschaft noch einmal in die Schrecken des KZ-Systems vertieft habe.

Wie konnte die Nation der Dichter und Denker, der Erben von Goethe und Schiller, Kant, Hegel und Heine, Hitlers Wahnsinn kapitulieren?

Ich war 27 Jahre alt, das Buch stand schon seit einiger Zeit in meinem Regal, aber ich weiß nicht mehr, warum ich es als Urlaubslektüre an die Mittelmeerküste Okzitaniens mitgenommen habe. Letztendlich hatte mein Motiv wohl mit Kants kategorischem Imperativ zu tun, mit dem „moralischen Gesetz in mir“: „Nie wieder!“ bedeutete auch „Erinnern! Lernen! Verstehen!“

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Natürlich las ich seit dem Gymnasium über den Nationalsozialismus – man nannte ihn zunehmend „Faschismus“. Und die Frage aller Fragen beschäftigte mich, wie die meisten von uns, für den Rest meines Lebens: Wie konnte die Nation der Dichter und Denker, die Erben von Goethe und Schiller, Kant, Hegel und Heine, sich in einer solchen Situation dem Wahnsinn Hitlers ergeben? sich bewusst oder unwissentlich an seinen Verbrechen beteiligen und vor allem von Ausnahmen abgesehen keinen wirklichen Widerstand gegen die Judenverfolgung leisten?

Das Cover von Eugen Kogons Buch „Der SS-Staat“ aus dem Jahr 1946.

Amazonas

Generationenkonflikt

Die ersten linken Lehrer, die nach dem Aufstand von 1968 in den Lehrerberuf eintraten – unser Lehramtsstudent für Wirtschafts- und Sozialkunde war ein Maoist –, hatten eine ganz einfache Erklärung: Es waren „Großunternehmen“, Schwerindustrie und Banken, die Hitler an die Macht brachten um ihre reaktionären Profitinteressen zu sichern. Aber das würde nicht die Begeisterung erklären, mit der schon lange vor 1933 Hunderttausende Deutsche aus allen sozialen Schichten an Hitlers Worten hingen.

Dass kapitalistische Profitinteressen die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden erforderten, erschien gelinde gesagt auch nicht logisch. Denn was auch immer unsere Väter und Mütter während des Krieges getan hatten, es hatte kaum etwas mit den Zinsgewinnen der Deutschen Bank zu tun.

Also mussten wir weiter recherchieren.

Kritiker der Revolte von 1968 haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Rebellen um den studentischen Aktivisten Rudi Dutschke nur ein mäßiges Interesse an historischer Aufklärung hatten. Vielleicht war das kein Wunder, denn sie sahen sich selbst als Revolutionäre, deren Augen auf eine glänzende sozialistische Zukunft gerichtet waren.

Aber es hat sicherlich geholfen, dass die Generation ihrer Eltern als Nazis verurteilt wurde. Es handelte sich um eine im modernen deutschen Sprachgebrauch sehr gelungene „Erzählung“, die die eigene Position in die Sphäre moralischer Unangreifbarkeit stellte, ohne dass es historischer Akribie bedarf.

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Dennoch bot der Generationenkonflikt eine starke Dynamik, denn natürlich gab es in der Elterngeneration viele Nazis und Anhänger, die sich oft nur ungern mit ihren Verbrechen auseinandersetzten, insbesondere mit der Shoah, dem Holocaust an den Juden. Auch die jüngeren Babyboomer kämpften hier ihre Kämpfe, die mitunter zum Bruch mit den Eltern führten.

Pro-israelische Haltung der Linken auf den Kopf gestellt

Einige Weihnachtsfeiern fielen jahrelang aus, während der Antifaschismus zunehmend das Profil einer Nachholbewegung annahm. Gerade weil die Eltern so schmerzlich versagt hatten und sich ihre Schuld und Verantwortung allzu oft gar nicht eingestehen wollten, mussten die Jugendlichen nun umso erbarmungsloser gegen jeden Anflug faschistischer Gesinnung ankämpfen.

Die prophetische Aussage des Journalisten Johannes Groß: „Je länger das Dritte Reich tot ist, desto stärker wird der Widerstand gegen Hitler und seinesgleichen“ traf den Nagel auf den Kopf und gilt auch heute noch, da wir scheinbar von Nazis umgeben sind.

Mittlerweile war Willy Brandt, der aus Hitlerdeutschland geflohene Sozialdemokrat, Bundeskanzler geworden. Doch auch er blieb nicht von den Vorwürfen verschont, Vertreter eines „neuen Faschismus“ zu sein, die die militanten Linken im Kreis der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) lautstark erhoben.

Die nach dem Sechstagekrieg 1967 vorherrschende pro-israelische Haltung der deutschen Linken hatte sich ins Gegenteil verkehrt.

Die Menschen trugen palästinensische Schals und entlarvten Israel als kolonialistischen „Außenposten des US-Imperialismus“. Viele von uns sahen das immer noch nicht so, doch plötzlich erschienen die Palästinenser als Opfer und potenzielle Revolutionäre, während die Juden in die Rolle der Täter schlüpften, gerade weil Israel als einzige und noch immer erfolgreiche Demokratie im Nahen Osten galt letztlich Teil der westlichen kapitalistischen Welt, der die globale revolutionäre Bewegung den Krieg erklärt hatte. Eine politische Achsenverschiebung, die bis heute Nachwirkungen hat.

Bereits im September 1969 reiste eine linksextremistische Gruppe namens „Tupamaros West Berlin“ unter der Führung des ehemaligen Kommunisten Dieter Kunzelmann zu einem Trainingslager der palästinensischen Terrorgruppe al-Fatah in Jordanien, wo sie von Jassir Arafat persönlich begrüßt wurden ein Handdruck.

Kurz darauf, am 9. November 1969, scheiterte ein Sprengstoffanschlag auf die jüdische Gemeinde in der Berliner Fasanenstraße nur an einem technischen Defekt. Der Initiator der „Aktion“, Kunzelmann, wollte mit einer Bombe gegen Juden den von ihm diagnostizierten deutschen „Judenstau“ überwinden.

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Bis heute ist dieser erste antisemitische Angriff der deutschen Linken eine kaum beachtete Fußnote der Geschichte – ähnlich der empörenden Reaktion der RAF-Ikone Ulrike Meinhof auf den Olympia-Bombenanschlag 1972 in München durch die palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer September“. bei dem alle elf israelischen Geiseln ermordet wurden.

Antisemitismus ist geradezu schick geworden, in Form von „Israelkritik“

Am 13. September 1972 schrieb sie jubelnd aus dem Gefängnis an ihren Anwalt Heinrich Hannover, es sei „eine zutiefst proletarische Aktion“ gewesen, in der „alle Momente des revolutionären Kampfes vereint“ seien – „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch, internationalistisch“. „, getragen von einem „Klassenbewusstsein“, das sich „seiner historischen Mission, Avantgarde zu sein, absolut bewusst war“ und einer „Menschlichkeit“, die sich mutig dem „faschistischen Imperialismus“ entgegenstellte.

Der Stil von Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, die Sprache jener monströsen Nazi-Verbrecher, denen es auch darum ging, mehrfache Massenmorde in Heldentaten umzuwandeln, schwingt hier unheimlich mit.

Solidarität mit Mördern

In dieser Tradition steht die Tatsache, dass die postkolonialen queer-feministischen LGBTQ+-Aktivistinnen und die internationalen Klimafanatiker von Fridays for Future nun ebenso offen ihre Solidarität mit den Hamas-Mördern artikulieren, wie auch linke Demonstranten vor dem Auswärtigen Amt den angeblichen „Judenaufhänger“ in einen englischsprachigen Slogan umwandeln: „Befreit Palästina von der deutschen Schuld!“ – ist schockierend.

Der Antifaschismus hat die Seiten gewechselt und ruft nun „Yallah Yallah!“ statt „Nie wieder!“, trotz aller Appelle und Sonntagsreden.

Mittlerweile ist Antisemitismus in Form von „Israelkritik“ geradezu schick geworden, im wahrsten Sinne des Wortes mit perfekt gezupften Augenbrauen und lackierten Fingernägeln, in Prada-Schuhen und einer Gucci-Handtasche. Man kann darauf warten, dass jemand UN-Generalsekretär António Guterres mit der Bemerkung paraphrasiert, dass Auschwitz auch nicht „im luftleeren Raum“ stattgefunden hat.

Und wir Babyboomer? Wir stehen hilflos vor den Trümmern unseres antifaschistischen Kampfes, der plötzlich furchtbar anachronistisch erscheint, wie aus einer anderen, untergehenden Welt.

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