Fünfzig Jahre Abenteuer im EU-Ausland

„Outbound journey day“ nennt Interrail diesen Tag, an dem ich mein Land verlasse, um auf Schienen das europäische Ausland zu erkunden. Urlaub machen, ohne sich ins Auto oder in den Flieger zu setzen – das schwebt mir für die kommenden zwei Monate vor. Dem Klima zuliebe. Und vielleicht auch für mich, damit das Streckemachen entspannt abläuft. Keine Tankstopps, keine Boardingschlange, kein Navi, keine Staus, keine Flugausfälle, kein Flugmodus. Einfach einsteigen und aus dem Fenster schauen. In der Tasche oder besser auf dem Handy ein Interrailpass für zehn frei wählbare Fahrtage in zwei Monaten. Gültig in 33 Ländern. Heimische Strecken dürfen nur einmal zum Aus-, dann wieder zum Einreisen genutzt werden.

Bis zur Grenze hat Zugfahren noch etwas Gewohntes: die Farbe der Sitze im ICE, die Kleidung der Zugbegleiter. Das Chaos, wenn Reisende mit ihren Rollkoffern in entgegengesetzte Richtungen wollen. Man weiß, wo die Steckdosen sind. Ob es sich lohnt, ins Bistro zu gehen. Wie es klingt, wenn die aktuelle Verspätung angesagt wird. Alles altbekannt, man hebt kaum den Kopf. Nicht einmal für die Natur da draußen. Doch bald geht es durch die Schweiz, 15 Minuten Liechtenstein, dann Österreich. Das Alpenvorland zieht am Fenster vorbei. Am Zürichsee verlaufen die Schienen fast auf Wasserhöhe und nah am Ufer. Rechts die Glarner Alpen. Links der Walensee, petrolfarben. Hinten ragen die Felswände heraus wie ein ins Wasser gestochenes Spatenblatt. Ist man in Deutschland auch so nah dran an der Landschaft und den Fußballfeldern, Baustofflagern, Gärten und Hinterhöfen? Es mag daran liegen, dass sich in den Bergen alles durch die Täler drängen muss. Kein Abstand möglich. Wir liefern uns ein Rennen mit den Pkw auf der Autobahn nebenan. Siegessicher lehne ich mich zurück – und gewinne.


Regen trübt nur die Aussicht in Basel, das Interrailticket bringt einen gut überdacht durch Europa.
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Foto: Anja Martin

Interrail – das war vor fünfzig Jahren ein Versprechen von Abenteuer und Freiheit. Reisen ohne Plan und fast ohne Geld. Einen Monat lang in jeden Zug springen. Auch ich habe mir nach dem Abitur diesen Freifahrschein geholt. Der Trick war, auch im Zug zu schlafen, damit man sich die Jugendherbergen sparte. Dass das so gut funktionierte, lag auch an den alten Abteilen, die man zu Liegewiesen umbauen konnte, indem man alle Sitzflächen auszog. Vorhang zu und Schuhe aus. Da steckte maximal noch ein Schaffner den Kopf herein. Und wenn das nicht funktionierte, waren da noch die Bahnhöfe: Isomatte ausrollen, Sweatshirt als Kopfkissen, hinein in den Mumienschlafsack. Ein halbes Jahrhundert und zehn Millionen Reisende später hat sich vieles geändert: die Waggons, die Bahnhöfe, die Ansprüche an Sicherheit und Komfort. Und auch das System.

Seit drei Jahren funktioniert Interrail auch digital, per Rail-Planner-App. Sie bestätigt, dass heute Reisetag ist, einer von zehn bei dem Pass, für den ich mich entschieden habe. Das System hat für diesen Tag einen QR-Code generiert, den ich als Fahrkarte vorzeigen kann. Bis Mitternacht davor hätte ich stornieren können. Im Planner habe ich bereits Verbindungen recherchiert und unter „My Trip“ abgespeichert, eine Route ausgearbeitet, die ich mir auch auf der digitalen Karte anschauen kann. Alle Schieber der Strecken, die ich heute fahren will, sind nach rechts geschoben und somit aktiv. So behält man den Überblick. Verspätungen und Zugausfälle allerdings werden nicht angezeigt. Dafür braucht man noch die nationalen Bahn-Apps. So einig ist sich Europa dann doch nicht.

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