Jahrzehntelang waren die Deutschen an stabile politische Mehrheiten gewöhnt. Doch die Zeiten, in denen zwei große und eine kleine Partei abwechselnd Regierung und Opposition stellten, sind lange vorbei. Koalitionen aus drei Parteien sind auf Länderebene inzwischen die Regel und seit 2021 auch in der Bundesregierung angekommen.
Der Freistaat Thüringen war 2014 eines der ersten Flächenländer, in denen eine solche Dreierkonstellation – in diesem Fall aus Linken, SPD und Grünen – die Regierung bildete. Gut fünf Jahre später war in Erfurt nicht mal mehr das möglich. Weil Linke und AfD seitdem zusammen mehr als die Hälfte der Landtagssitze stellen, kam es abermals zu einem Novum, einer Minderheitsregierung ohne feste Tolerierung. Linken, SPD und Grünen fehlen vier Stimmen, die sie wahlweise von der CDU-Fraktion oder der FDP-Gruppe erhalten – oder auch nicht.
Die Hoffnung, bei der Landtagswahl im kommenden Jahr wieder zu verlässlichen Verhältnissen zurückkehren zu können, ist jedoch gering. In allen bisherigen Umfragen hat sich praktisch nichts an der Ausgangslage geändert. In der vergangenen Woche ergab eine vom MDR in Auftrag gegebene Umfrage von infratest dimap nicht nur 34 Prozent für die AfD, sondern auch ein Patt zwischen den beiden realistischen Minderheitskoalitionsoptionen: Sowohl Linke, SPD und Grüne als auch CDU, SPD und FDP kämen auf jeweils 35 Prozent, wobei die FDP mit vier Prozent noch nicht einmal wieder im Landtag vertreten wäre. Die Lücke zu einer Mehrheit wäre also bei beiden Varianten noch größer als bisher, die politische Lage noch komplizierter.
Diese verzwickte Gemengelage will Thüringens früherer CDU-Vorsitzender Mike Mohring mit einem Vorstoß aufbrechen, den er nach der Landtagswahl 2019 schon einmal gebracht hatte: die Öffnung der CDU für eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der Linken.
Mohring: „Realität im Blick haben“
Beide Parteien haben zusammen noch mehr als die Hälfte aller Stimmen im Landtag, in Umfragen kommen sie zurzeit gemeinsam auf gut 40 Prozent. „Die Rezepte der Vergangenheit taugen nicht mehr“, sagte Mohring der F.A.Z., im Gegenteil. „Es verändert sich nichts, außer dass die AfD noch stärker wird.“ Deshalb dürfe sich die CDU nicht weiter zwischen Rechts und Links einmauern, sondern müsse die Blockade durchbrechen.
Bei der AfD komme das nicht infrage, mit der Linken dagegen arbeite die CDU im Landtag bereits faktisch zusammen. Sie habe ihrem Ministerpräsidenten ins Amt verholfen, mit ihr einen „Stabilitätspakt“ umgesetzt und mehrfach gemeinsam den Haushalt beschlossen. „Da können wir doch jetzt nicht von Vornherein jede Zusammenarbeit ausschließen“, sagt Mohring. „Diese Widersprüchlichkeit erzürnt die Leute und hilft nur der AfD.“
Es sei zwar richtig, zur Linken inhaltlich maximale Distanz zu wahren und für eigene Mehrheiten zu kämpfen. Doch müsse man die Realität am Wahlabend im Blick haben. Er plädiert dafür, sich vor der Wahl nicht zu beschränken und danach zu schauen, was geht.
Auch andere halten Ausschluss für falsch
Thüringens CDU-Vorstand aber kann der Idee überhaupt nichts abgewinnen. Die Beschlusslage sei eindeutig, sagte Generalsekretär Christian Herrgott der Zeitung „Thüringer Allgemeine“. Die CDU schließe Koalitionen und damit auch die Zusammenarbeit mit AfD und Linken aus. Mohrings Vorschlag sei eine Einzelmeinung, an der Basis gebe es „null Bewegung“ für eine Öffnung zur Linken.
Das jedoch stimmt nicht ganz: Es gibt CDU-Politiker, die dem Dogma nichts abgewinnen können. „Am Ende beschließen wir uns noch in die Bedeutungslosigkeit“, schrieb André Neumann, Oberbürgermeister der ostthüringischen Kreisstadt Altenburg, auf Twitter. „Eine Regierungsmehrheit in Thüringen wird ab Herbst nächsten Jahres nur durch eine Koalition zwischen CDU und Die Linke herstellbar sein.“
Auch der populäre Landrat des Kreises Eichsfeld, Werner Henning, hält einen völligen Ausschluss der Linken für falsch. „In der Partei und insbesondere bei Bodo Ramelow sehe ich bürgerliche Elemente“, sagte Henning der F.A.Z. Zwar missfalle ihm an der Linken deren bisweilen erzieherischer Habitus, aber seine Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit der links geführten Landesregierung sei, dass man „schnell und pragmatisch Konsens zum Wohle der Menschen erreichen“ könne.
Ohnehin ist die Linke im Osten keine maoistische Revolutionsgarde, sondern eine Partei mit durchaus staatstragender Attitüde und kleinbürgerlicher bis mittelständischer Wählerschaft. Henning sagt, er empfehle seiner Landes-CDU, „souveräner zu werden in ihrer eigenen Bürgerlichkeit und im christlich geerdeten Menschenbild“. Wenn es darum gehe, Politik für die Menschen zu machen, sei die Linke „in vielen Punkten ein vernünftiger Partner“.
Sowohl Neumann als auch Henning sind zugleich entschiedene Gegner der AfD, die sie in ihren Kommunalparlamenten täglich erleben. Mohring wiederum, der unter Vermittlung von Altbundespräsident Joachim Gauck 2019 schon einmal eine „Projekte-Regierung“ mit Union und Linken ausgelotet hatte, will seinen Vorschlag ausschließlich für die Lage in Thüringen verstanden wissen.
Antworten auf das Leben ließen sich nicht pauschal mit Parteitagsbeschlüssen und von außerhalb, etwa aus Westdeutschland oder Berlin, geben, sondern müssten „aus dem Land für das Land“ kommen. „Um den Stillstand aufzulösen, brauchen wir wieder eine Mehrheitsregierung“, sagte er. „Wenn wir dagegen genauso weitermachen wie bisher, wird es nur noch schlimmer.“