Karl Christ: Die Lebenserinnerungen des Althistorikers


„Im Aufbau der Erziehung, im Einsatz der marschierenden Formationen, in der Heer­schau der nationalen Feiertage erscheint etwas von der politischen Le­bensform der Antike in die höhere Stufe der Volkseinheit übertragen.“ So bestimmte der Althistoriker Joseph Vogt (1895 bis 1986) 1937, im Jahr seines Eintritts in die NSDAP, in einem Breslauer Akademievortrag „Unsere Stellung zur Antike“. Karl Christ (1923 bis 2008), der im Berliner Sportpalast anwesend war, als Hitler am 15. Februar 1942 zu Offizieren und Offiziersanwärtern sprach, wurde 1953 in Tübingen von Vogt mit einer Arbeit über Drusus, den im Jahr 9 vor Christus auf einem Feldzug gegen die Cherusker an einer Verletzung verstorbenen Stiefsohn des Augustus, promoviert und beschäftigte sich in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Studien mehrfach mit seinem Lehrer.
Bild: Heinz Fremke/Bundesarchiv

Der Krieg als Primärerfahrungsraum eines Historikers der verstrickten Wissenschaft: Karl Christ hat zwischen 1999 und 2006 für seine Familie sein „Lebensmosaik“ aufgeschrieben.

Es gebe, so schrieb Reinhart Koselleck in dieser Zeitung am 6. Mai 1995, „Erfahrungen, die sich als glühende Lavamasse in den Leib ergießen und dort gerinnen“. Der am 23. April 1923 geborene Historiker sprach von seinen eigenen Erlebnissen als junger Mann im Krieg gegen die Sowjetunion und während der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in Kasachstan. Das individuelle Erleben von Krieg, Gewalt und Verfolgung, aber auch das Erleiden existenzieller Angst fasste er unter dem Begriff der „Primärerfahrungen“ zusammen. „Vergleichen lassen sie sich allemal: aber nur von außen. Von der jeweiligen Erfahrung selber her ist alles einmalig.“

Solche Primärerfahrungen, die den Einzelnen emotional belasten, die ihn in Träumen übermannen, ein Leben lang nur mühsam zu bändigen sind, waren Kosellecks Generation, die im grauen Rock für Führer und Vaterland in den Krieg gezogen war, eingeschrieben. Zu dieser Generation gehörte auch Karl Christ, der spätere Marburger Ordinarius für Alte Geschichte und Archeget der althistorischen Wissenschaftsgeschichte. Am 6. April 1923 geboren, teilte er mit Koselleck nicht nur das Geburtsjahr: Wie dieser kämpfte er als Freiwilliger an der Ostfront, und auch für ihn endete der Krieg in sowjetischer Gefangenschaft. Der ehemalige Oberleutnant Christ traf sich wie der einstige Obergefreite Koselleck nach 1945 regelmäßig mit den Kameraden aus der Gefangenschaft, mit denen man Erlebnisse offenbar teilen konnte, die in der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik zunächst keinen Platz hatten.

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