Gründer gehen ins Risiko und greifen auf eigene Gelder zurück

Die Zahl der Seed-Runden, also der allerersten Finanzierungsrunden mit Wagniskapitalgebern (VCs), ging im ersten Halbjahr im Vergleich zu den vorangegangenen sechs Monaten um sechs Prozent zurück. Trotzdem stieg die Anzahl der Gründungen im selben Zeitraum um mehr als 16 Prozent.

Viele Investoren begrüßen es, wenn Unternehmer die Anfangsphase aus eigenen Mitteln finanzieren. „Das werden die erfolgreichsten sein“, sagt beispielsweise Johannes von Borries vom Risikogeldgeber UVC Partners aus München. Diese Start-ups achteten in der Regel mehr darauf, zuerst Kunden- statt Investorenwünsche zu erfüllen. „VC-Kapital einsammeln kann nicht der Hauptzweck eines Start-ups sein.“

Die Gründer wiederum versuchen, mit dieser Fokussierung das Beste aus der Misere am Risikokapitalmarkt zu machen. Laut einer Erhebung der Unternehmensberatung EY brachen die Investitionen in deutsche Start-ups im ersten Halbjahr um 49 Prozent auf 3,1 Milliarden Euro ein.

Die Verhandlungen für Finanzierungsrunden ziehen sich weltweit in die Länge. Nach dem Coronaboom hat sich der Markt zugunsten der Investoren gedreht. Diese können nun oft die Konditionen für Deals diktieren – was sie für Gründer unattraktiver macht.

Celonis, Workwise oder Gymshark sind mit eigenen Mitteln gestartet

Dass der Start aus eigenen Mitteln tatsächlich erfolgreich sein kann, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Es gibt namhafte Erfolgsbeispiele für das Bootstrapping. Dazu gehören Deutschlands wertvollstes Software-Start-up Celonis aus München und das Karlsruher Jobportal Workwise sowie die Softwarefirma Signavio aus Berlin, die inzwischen zu SAP gehört.

Die genannten Firmen haben erst einige Jahre nach der Firmengründung die ersten Finanzierungsrunden gestemmt und sich Investoren an Bord geholt. „Das Wachstum dieser Unternehmen war anfangs vielleicht etwas geringer, dafür stehen sie auf einem soliden Fundament“, sagt Julian Riedlbauer, Partner bei der Beratungs- und Investmentgesellschaft GP Bullhound.

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Auch auf europäischer Ebene gibt es einige erfolgreiche Beispiele für Start-ups, die lange ohne Fremdkapital unterwegs waren. Dazu zählt der britische Sportartikelhersteller Gymshark, bei dem ganze zehn Jahre vergingen, bevor sich General Atlantic mit 200 Millionen Dollar als erster Investor an dem Unternehmen beteiligte.

Entscheidungshoheit durch Bootstrapping

Einige Experten rechnen damit, dass die jüngste Entlassungswelle im Tech-Sektor von Amazon über Meta-Eigner Facebook bis zu Twitter das Bootstrapping international befördern wird. Laut einer Studie des US-Kreditgebers Clarify Capital unter 1000 entlassenen Tech-Mitarbeitern haben mehr als 60 Prozent der Befragten den Schritt in die Selbstständigkeit gewählt. Häufig griffen diese dabei erst mal auf das eigene Finanzpolster zurück, das sie sich während ihrer Angestelltenzeit oder durch Abfindungen angelegt haben.

Diagramm

Der hohe Druck durch die Inflation im Zusammenspiel mit höheren Zinsen, der anhaltenden Konsumschwäche und der Unsicherheit über die konjunkturelle Entwicklung vor allem in Deutschland hat das Finanzierungsumfeld für Start-ups in diesem Jahr noch mal deutlich verschlechtert. Obwohl es erste Anzeichen für eine Wiederbelebung des Börsengeschehens gibt, ist sich in der Start-up-Branche aktuell niemand sicher, wann es wieder aufwärtsgeht.

Laut Zahlen von Pitchbook, die exklusiv für das Handelsblatt ermittelt wurden, bekamen Start-ups auch in der Früh- beziehungsweise Seed-Phase, in der die jungen Firmen überhaupt erst mal ihr Produkt entwickeln und in der Regel keine Umsätze erzielen, zuletzt weniger Geld von Business-Angels und VCs. Auch die Zahl der Deals ist gesunken – und das, obwohl Start-ups weiterhin sehr aktiv sind und ähnlich viele Pitches – also Präsentationen ihrer Geschäftsidee – bei VCs einreichen wie noch vor zwei Jahren.

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Als reinen Notnagel betrachten die meisten Gründer das Bootstrapping aber nicht. Es gab schon immer Gründer, die ihr Business lieber aus eigener Kraft aufbauten. Viele verzichten ganz bewusst darauf, sich Investoren an Bord zu holen.

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„Uns war es wichtig, in unseren Ideen für Produkte und in der Art und Weise der Umsetzung völlig frei zu sein – ohne dass wir diese an Strukturen und Vorgaben anpassen müssen“, sagt der Mitgründer des Kölner Laufschuh-Start-ups True Motion, Christian Arens.

Diese Freiheit hat allerdings ihren Preis. „Wir tragen natürlich ein hohes finanzielles Risiko. Das ist die Herausforderung beim Bootstrapping“, merkt der 33-jährige Arens an.

Im Falle von True Motion haften die drei Mitgründer auch privat, „denn die Banken wollen das unternehmerische Risiko nicht übernehmen“. Inzwischen steht das Geschäft aber auf einer guten Basis: True Motion hat mittlerweile 180.000 seiner Laufschuhe mit hufeisenförmiger Sohle verkauft und arbeitet mit 180 Händlern zusammen. Arens kann sich und seinen Mitstreitern ein Gehalt auszahlen und muss längst nicht mehr auf Erspartes zurückgreifen.

True-Motion-Geschäftsführer Andre Kriwet, Christian Arens und Gert-Peter Brüggemann (v.l.)

„Uns war es wichtig, in unseren Ideen für Produkte und in der Art und Weise der Umsetzung völlig frei zu sein.“

(Foto: TrueMotion / Maya Claussen)

Viele andere, die solche Rücklagen nicht haben, finanzieren ihre Geschäftsideen zunächst häufig über Gründerprogramme, von denen es mehrere in Deutschland und Europa gibt. Denn gerade am Anfang gibt es in der Regel nur Ausgaben und keine Einnahmen. Zuschüsse und Stipendien bieten beispielsweise das Exist-Gründerstipendium oder das Berliner Förderprogramm Profit.

Ähnlich wie Arens verzichtet bisher auch Alexander Ingelheim mit seinem Datenschutz-Start-up Proliance auf die Hilfe von VCs. Die bisherigen Begegnungen und Erfahrungen haben ihn nicht überzeugt. „Über was keiner spricht, sind die massiven Abgaben von Entscheidungsbefugnissen beispielsweise durch Stimmrechtsbeteiligungen und finanzielle Nachteile in Form von Liquidationspräferenzen.“ Mit Letzterem sichern sich Investoren bessere Konditionen bei weiteren Finanzierungsrunden sowie einem Verkauf.

Dieser Einflussnahme will Ingelheim aus dem Weg gehen. Klar ist ihm allerdings auch, dass er dadurch einige Vorhaben wie die Expansion in andere Länder erst später umsetzen kann. Bisher ist das Geld nicht da, um seine Plattform, die Unternehmen die Einhaltung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) erleichtern soll, in weitere Märkte zu bringen.

Schnelles Wachstum kaum zu finanzieren

Genau das ist das Problem, auf das viele Start-ups, die ohne Fremdkapital unterwegs sind, häufig nach einiger Zeit stoßen. Im besten Fall wachsen sie kontinuierlich, können aber die Wachstumsschritte nicht erreichen, die fremdkapitalfinanzierte Wettbewerber aufgrund der besseren Kapitalausstattung gehen können.

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Wer in Märkten mit starkem Wettbewerb unterwegs sei, Netzwerkeffekte ausbauen oder Eintrittsbarrieren für Konkurrenten schaffen wolle, der komme meist gar nicht ohne VC-Geld aus, sagt Pawel Chudzinski, Partner beim Seed-Investor Point Nine, der in der Vergangenheit in Start-ups wie Delivery Hero, Contentful und Revolut investiert hat. Zumal Investoren eben nicht nur Geld mitbringen, sondern auch ihre meist umfangreichen Kontakte zu anderen Investoren und Kunden.

Das Schweizer Start-up Adventurly, das Luxus-Zelte an Naturschauplätzen wie den Schweizer Alpen vermietet, denkt genau über diesen Schritt jetzt nach. „Nun stehen wir an einem Punkt, an dem wir das weitere Wachstum nicht mehr zu zweit bewältigen können“, sagt Mitgründer Nico Berghöfer. Das Einbinden eines VC-Partners wäre eine Option – jedoch nur, wenn dieser strategisch hinter dem Unternehmen stehe und die Vision teile.

Zelt von Adventurely

Das Schweizer Start-up denkt darüber nach, Wagniskapitalgeber an Bord zu holen.

(Foto: TrueMotion)

Auch der Chef des Klavierlern-Start-ups Flowkey, Jonas Gößling, will sich nicht für immer auf die Finanzierungsform Bootstrapping festlegen: „Man weiß nie, was die Zukunft so bringt.“ Denn bald soll die App nicht mehr nur ein Onlinelernprogramm für angehende Klavierspieler bieten, sondern auch helfen, ein passendes Klavier zu finden.

Investoren machen Vorteile bei Bootstrapping-Firmen aus

Start-ups in dieser Situation dürfte gelegen kommen, dass manche Investoren sie längst auf dem Schirm haben. Bei Peter Singlehurst vom britischen Wagniskapitalgeber Baillie Gifford (Airbnb, Graphcore, Flix) ist das der Fall: „Aktuell schauen wir uns einige Unternehmen an, die sich bis dato nur übers Bootstrapping finanziert haben. Sie haben oft eine bessere Kostendisziplin als Firmen, die von Anfang an auch über Wagniskapital verfügen.“ Auch die Kapitaleffizienz sei meist höher.

Und in den Finanzierungsverhandlungen sitzt Singlehurst dann eben nur dem Gründerteam gegenüber und nicht noch anderen Investoren, die auch mitreden wollen.

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