Energie: Europas große Rückkehr zur Atomkraft

Das Wahrzeichen der europäischen Hauptstadt hatte schon mal bessere Tage gesehen. Die neun Kugeln des Atomiums im Norden von Brüssel waren stumpf, matt und dreckig geworden, die Verbindungsröhren rosteten vor sich hin. Die Stadt, Sitz der Europäischen Kommission, wollte das 102-Meter hohe Atom-Modell zur Jahrtausendwende schon abreißen lassen. Das monumentale Symbol der friedlichen Nutzung der Kernenergie aus dem Jahr 1958 galt beim Anbruch des Zeitalters der erneuerbaren Energien als veraltet und verzichtbar.

Doch als sich am vergangenen Donnerstag Regierungschefs und Minister aus 32 Staaten in Sichtweite des Atomiums zum Kernenergie-Gipfel in Halle 11 des Brüsseler Expo-Geländes trafen, funkelte das mittlerweile renovierte Atommodell wie am ersten Tag.

Belgiens Regierungschef Alexander de Croo widmete das Wahrzeichen spontan um in ein Symbol der nuklearen Renaissance: „Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen“, sagte de Croo vor den versammelten Spitzenpolitikern, darunter Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: „Wir können ihn in eine Chance für Fortschritt verwandeln, Arbeitsplätze schaffen, die Qualität und Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaften erhöhen und eine echte Zukunft für Innovation und unsere Industrie bieten. Die Kernenergie hat all das.“

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Es war der erste Weltgipfel der Atomenergie seit US-Präsident Dwight D. Eisenhower mit seiner „Atoms For Peace“-Rede vor 70 Jahren die Ära der friedlichen Nutzung der Kernspaltung eingeläutet hatte. Im Dezember vergangenen Jahres hatten die Vereinten Nationen auf der 28. Weltklimakonferenz in Dubai Atomenergie in ihre „globale Bestandsaufnahme“ der schnell auszubauenden Klimaschutztechnologien aufgenommen. Jetzt wies Versammlungsleiter Rafael Mariano Grossi, Chef der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA), dem Treffen in der belgischen Hauptstadt eine vergleichbare „historische Bedeutung“ zu.

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Denn in der „Brüsseler Deklaration“ versprachen sich die Delegationen europäischer, amerikanischer, afrikanischer und asiatischer Staaten gegenseitig Unterstützung beim Ausbau der Atomkraft. Man verwies auf das bereits in Dubai verabredete Ziel, die Nutzung der Kernenergie bis 2050 zu verdreifachen. Den ganzen Nachmittag über tauschten sich die Delegationen vor allem über Finanzierungsfragen aus, es ging nicht mehr um das „Ob“, es ging nur noch um das „Wie“.

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EU-Präsidentin Ursula von der Leyen forderte von den Mitgliedstaaten der Union, eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zu prüfen. Die EU-Staaten sollten auch die Entwicklung der neuen Generation von Kleinst-Reaktoren, sogenannten Small Modular Reactor (SMR), beschleunigen. Hier könne Europa seine technologische Kompetenz wieder ausspielen. „Weltweit werden 80 SMR-Projekte vorangetrieben“, mahnte von der Leyen: „Wir sind in einem Wettlauf.“

Länder wie Schweden erwarten wachsenden Strombedarf

Es gab Klimaschützer, die das anders sahen: Vom Dach des Expo-Gebäudes seilten sich Greenpeace-Aktivisten ab, hissten Anti-Atomkraftbanner. Das „European Environmental Bureau“ (EEB), das nach eigenen Angaben größte Netzwerk europäischer Umweltschutzgruppen, erklärte Atomkraft für überflüssig, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen.

Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien reiche eine „scharfe Reduktion des Stromverbrauchs“ aus. Zeiten geringer Wind- und Solarkraft-Einspeisung könnten mit „Flexibilitätsoptionen“ und „nachfrageseitigen Maßnahmen“ überbrückt werden. Was das EEB damit meinte, verdeutlichte ein beigelegter Report der Gruppe: Demnach müsse Europa seinen Endenergie-Bedarf bis 2040 mehr als halbieren. Dann würde es ohne Kernkraft gehen.

Der Prämisse vom halbierten Energieverbrauch mochten jedoch die Regierungschefs auf dem Nuklear-Gipfel nicht folgen. Schwedens Regierungschef Ulf Kristersson erklärte, er rechne für sein Land nicht mit einer Halbierung, sondern im Gegenteil mit einer Verdopplung des Strombedarfs – verursacht durch das Vordringen von Elektromobilität, Digitalisierung und industrieller Modernisierung. Mit einem nuklearen Neubauprogramm will Stockholm nun ganz schnell zunächst zwei Reaktoren bis 2035 ans Netz bringen, danach zehn weitere Blöcke bis 2045.

In der Slowakei soll der nächste Reaktor 2025 ans Netz gehen

Auch der Premierminister der Slowakei verwies auf den Mehrbedarf seines Landes, das zu den größten Produktionsstandorten der europäischen Autoindustrie gehört: „Wir produzieren aktuell eine Million Autos pro Jahr und es gibt Pläne, das auf 1,5 Millionen zu erhöhen“, sagte Robert Fico. Um den Energiebedarf dafür zu sichern, setze man auf Atomenergie. Den nächsten Bauauftrag lobte Fico in Brüssel auf offener Bühne aus: „Wir laden alle Hersteller der Welt ein, Angebote für eine weitere nukleare Kapazität von 1200 Megawatt einzureichen.“

Derzeit deckt die Slowakei mehr als die Hälfte ihres Strombedarfs mit Kernenergie. Die Regierung plant, den Atomstromanteil von über 50 Prozent konstant zu halten, während nebenbei erneuerbare Energien die Kohlekraftwerke ersetzen. Der nächste slowakische Reaktor, Mochovce 4, soll nächstes Jahr ans Netz gehen. Den Brennstoff, den bislang Russland liefert, will Bratislava mittelfristig durch Ausbeutung der eigenen Uran-Vorkommen bei Kurišková ersetzen.

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Wie in Schweden und der Slowakei plant eine ganze Reihe europäischer Staaten den Ausbau der Atomkraft. Dass nach Jahrzehnten des Stillstands der neue europäische Druckwasser-Reaktor EPR2 noch mit Kinderkrankheiten behaftet ist, schreckt die Politik nicht ab. Trotz der jahrelangen Verzögerungen und enormen Kostenexplosionen bei EPR-Projekten wie im französischen Flamanville, im britischen Projekt Hinkley-Point C oder dem finnischen Olkiluoto gilt vielen die Atomkraft als unverzichtbar.

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Nuklear-Gipfel in Brüssel

Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Neben den drängender werdenden Forderungen von Klimaschützern sind geopolitische Versorgungsängste nach dem Ende russischer Erdgaslieferungen das zentrale Motiv für die Hinwendung zur nuklearen Option. Die Ankündigung von US-Präsident Joe Biden vom Januar dieses Jahres, ein Moratorium für den Export von Flüssig-Erdgas zu prüfen, ließ diese Sorgen in Europa weiter wachsen. Befürchtungen, im Standortwettbewerb gegen das Billig-Energieland USA unaufholbar zurückzufallen, tun ein übriges. Uran dagegen ließe sich nach Ansicht von Experten leicht auch aus anderen Ländern als Russland beziehen.

Die Hoffnung, allein durch den Ausbau von erneuerbaren Energien für ein großes, preissenkendes Angebot an Strom sorgen zu können, teilt außerhalb Deutschlands kaum jemand. Die milliardenschweren Beihilfen und Stützungspakete der Bundesregierung für ihre atomfreie Energiewende werden in Publikationen der World Nuclear Association (WNA) ganz offen als abschreckendes Beispiel vorgeführt.

Selbst Institutionen, die sich der grünen Transformation des Energiesektors verschrieben haben, kommentieren mit kaum verhohlener Skepsis den deutschen Sonderweg: So schätzte die Finanznachrichtenagentur BloombergNEF etwa den Geldbedarf der deutschen Energiewende bis 2030 bereits auf eine Billion Euro. Dass staatliche und private Mittel in dieser Größenordnung aufgebracht werden könnten, stellten die Analysten offen infrage.

Frankreichs Ausstieg vom Ausstieg

Angesichts von „Opportunitätskosten“ solchen Ausmaßes setzen andere Staaten lieber auf Alternativen. In Europa wächst die Zahl der Atomprojekte gerade rapide. Neubaupläne gibt es unter anderem in Ungarn, Bulgarien, Slowenien, Tschechien, Belgien und den Niederlanden. Polen hatte im vergangenen Jahr entschieden, drei Kraftwerksblöcke amerikanischer und koreanischer Hersteller in Choczewo und Patnow errichten zu lassen, Baubeginn ist für 2026 geplant.

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Frankreich, Nuklear-Nation Nummer eins, vollzieht längst den Ausstieg aus dem Ausstieg: Nachdem das Land 2015 beschlossen hatte, den Atomstrom-Anteil bis 2025 von über 80 auf 50 Prozent zu drücken, verschob man das Ansinnen bald danach auf das Jahr 2035 – und kassierte es im vergangenen Jahr schließlich ganz ein.

Im März 2023 beschloss die Nationalversammlung den Bau von sechs Reaktorblöcken des neuen Typs EPR2 bei Penly, Gravelines und Bugey. Zugleich wurden die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen, die Betriebsdauer bestehender Atomkraftwerke auf 60 Jahre zu verlängern. Im Januar dieses Jahres kündigte Energieministerin Agnes Pannier-Runacher den Bau von weiteren 16 Gigawatt AKW-Leistung an.

Zum Zuge kommen könnten dort auch die neuen Kleinst-Reaktoren. Small Modular Reactor (SMR) haben weniger als ein Drittel der Leistung herkömmlicher großer Atomkraftwerke. Ihr Vorteil liegt im höheren Sicherheitsniveau und den geringeren Kapitalkosten, da sie praktisch in Serie gefertigt werden sollen. Die französische EdF gründete Anfang 2023 dafür das Unternehmen Nuward SMR.

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Estland – zu klein für ein Atomkraftwerk herkömmlicher Größe – will SMR bauen. In Tschechien hat der Energieversorger CEZ eine Reihe von Vorverträgen mit den SMR-Entwicklern wie Rolls-Royce, GE Hitachi, NuScale und der EdF Nuward abgeschlossen. Wie das Fachmagazin „atw“ berichtet, denkt Polens Ölmulti Orlen daran, ab 2028 gleich bis zu 76 SMR an 26 Standorten bauen zu lassen.

Als Institution habe die Europäische Union eine bemerkenswerte Kehrtwende eingeleitet, stellte der slowakische Regierungschef Fico in seiner Rede in Brüssel fest: „Als ich 2007 als Ministerpräsident den Bau der zwei Reaktoren in Mochovce vollenden wollte, bin ich von der EU-Kommission dafür noch sehr, sehr schwer kritisiert worden.“ Er sei froh, so Fico, „dass der Brüsseler Gipfel nun die Lernfähigkeit der Europäischen Union belegt“.

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