Auf der Lauer in der Schweiz

Heute ist ein schöner Tag, um zu sterben. Über die Engelberger Gipfel spannt sich ein Himmel, der jede Vorstellung eines makellosen Blaus übertrifft. Die Luft streichelt so warm über die Haut, als verneige sie sich ein letztes Mal vor dem Sommer. Zum Jägerglück fehlt nur noch ein Murmeltier, das seinen Kopf aus dem Bau reckt und sich in dem Vertrauen umschaut, dass ihm nichts zustößt. Aber Murmeltiere sind weder dumm noch lebensmüde, da kann der Tag noch so schön sein.

Patrik, Jäger und Hüter der Natur, liegt auf der Lauer. Das Gewehr im Anschlag, verharrt er regungslos in der Sonne. Auf 1700 Metern macht die aus ihrer Septemberkraft keinen Hehl. Es verstreicht die erste Stunde, es verstreicht die zweite, dann die dritte. Nichts, nur eine Frau mit Hund, der sich im Bach abkühlt. Die Felswände funkeln ungerührt. Ich quäle mich einen Hang hinauf, der so steil wie die fieseste Bergetappe der Tour de France ist, und rette mich unter einen Busch. Schatten. Ich schwitze, sehne mich ins Tal, träume von einem Käsefondue und Pistazien­eis. Mein Magen knurrt. Ich esse ein Kit Kat, dessen Konsistenz an Mousse au Chocolat erinnert. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, einen Jäger zu begleiten?

Jetzt ziert euch doch nicht so, ihr Murmis!

Patrik robbt sich derweil Zentimeter für Zentimeter Richtung Murmeltierbau. Hoffentlich bekommt er keinen Sonnenstich, ich kenne nicht einmal die Telefonnummer der Schweizer Bergwacht. Mit seinem Feldstecher scannt er das Gebiet. Ich denke: Jetzt ziert euch doch nicht so, ihr Murmis! Ein sauberer Kopfschuss, und der Tag stünde nicht mehr still. Patrik würde die Bauchdecke des erlegten Wildkörpers, wie die Jäger sagen, mit seinem Schweizer Taschenmesser öffnen, die Innereien entnehmen, Leber, Niere, Herz, Futter für hungrige Füchse. Das Murmel käme in eine Plastiktüte, die Tüte in Patriks Rucksack. Er würde den Rucksack schultern, und wir würden begleitet vom Läuten der Kuhglocken zurück nach Engelberg wandern.

Murmeltiere sind wirklich sehr niedlich. Aber nicht jeder liebt sie.


Murmeltiere sind wirklich sehr niedlich. Aber nicht jeder liebt sie.
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Bild: Mauritius

Ich schäme mich dafür, mir den Tod eines Tieres zu wünschen, damit wir aufbrechen. Noch in der Gondel auf die Füren­alp hatte ich mir insgeheim überlegt, wie ich die Murmeltiere, diese niedlichen Fellhaufen, vor dem Tod bewahren und mir den Anblick eines weggepusteten Hirns ersparen könnte. Niesen und lautes Lachen schienen mir erfolgversprechend. Patrik würde die Absicht hinter meinem Krach gewiss nicht durchschauen.

Ich habe noch nie ein erschossenes Tier gesehen, weder Hirsch noch Gämse oder Murmeltier. Ich weiß nicht, ob das Tier im Todeskampf zuckt, ob sich seine Augen ans Leben klammern, wie verzweifelt es sich gegen das gefällte Urteil aufbäumt. Solche Gedanken mache ich mir nicht, wenn ein Stück Biofleisch auf meinem Teller liegt, was sehr selten vorkommt, dabei hat diese Gedanken jedes Tier verdient.

Patrik rappelt sich auf, streckt die vom Liegen verspannten Glieder, nimmt seinen Rucksack, ein breiter, schwer bepackter Mann mit freundlichen Augen. Er strahlt eine ungeheure Ruhe aus, und jede seiner Bewegungen sitzt. Eine Lehrstunde in Geschmeidigkeit. Er war mal Tauzieher, aber die Bandscheibe machte irgendwann nicht mehr mit, also bestieg er Berge, auch im Himalaja den 8027 Meter hohen Shishapangma. Er sagt: „Wir gehen. Die Murmeltiere lassen wir jetzt mal in Ruhe.“ Er klingt zufrieden, blickt sich um, „ist das nicht wunderschön hier?“

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