Das Erdbeben hat viele Kulturdenkmäler zerstört

Die beiden Welten liegen nahe beieinander, nur durch ein paar hohe alte Mauern getrennt. Aus Decken und Absperrgittern haben am Rande der Mellah Familien Verschläge gebaut, in denen sie seit zehn Tagen ausharren. In Marrakesch hat das Erdbeben das jüdische Viertel am schlimmsten getroffen. Jahrhundertealte Häuser sind in sich zusammengefallen, mindestens zwei Synagogen haben gelitten. „Wir wissen nicht, wohin wir sollen“, sagt eine Mutter, die mit ihren drei Kindern in einem kleinen Park kampiert. Keine fünf Minuten entfernt spielt unter den Palmen des La-Mamounia-Hotels eine Jazzband, Cocktailgläser klirren. Auf dem Rasen des Fünfsternehotels, in dem die Rolling Stones, Nelson Mandela und besonders gerne Winston Churchill wohnten, stehen weiße Stühle für eine Hochzeitsfeier bereit. Das günstigste Einzelzimmer kostet in diesen Tagen knapp 800 Euro pro Nacht.

Marrakesch liegt mehr als 70 Kilometer vom Epizentrum des Bebens am 8. September entfernt, das im Atlasgebirge ganze Dörfer verwüstet hat. Aber in der viertgrößten Stadt des Landes geht das ­Leben fast so weiter wie zuvor – auch für die ausländischen Besucher. Die großen Parks, wie der Majorelle-Garten in der Neustadt, der einst dem Modeschöpfer Yves Saint Laurent gehörte, sind geöffnet. Die meisten Sehenswürdigkeiten in der Altstadt – die Medina ist seit 1985 UN-Welterbe – bleiben jedoch geschlossen. In den engen Gassen und Basaren sind die Handwerker ausgerückt. Fachleute begutachten die Schäden, bevor Restaurants und Läden wieder öffnen dürfen.

Viele Minarette sind beschädigt worden

Das Beben hat besonders die Minarette erschüttert. Der Turm der Kharbouch-Moschee am Djemaa-el-Fna-Platz, der gerade renoviert worden war, gleicht einem Zahnstumpf. Nach dem Beben wurde er in internationalen Medien zum Symbol für die Katastrophe. Das Minarett der Koutoubia-Moschee, das zu den Wahrzeichen der Stadt zählt, weist nach einer ersten Begutachtung durch die UN-Kulturorganisation Unesco große Risse auf. Auch viele Stellen der jahrhundertalten roten Stadtmauern der Altstadt seien in Mitleidenschaft gezogen worden. Auf ersten Gerüsten wird der wuchtige Wall schon wieder verputzt. El-Badi- und Bahia-Palast sind geschlossen, auch die Saadier-Gräber. Noch sind die Schäden nicht endgültig klar, aber sie gelten als reparabel.

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Auch Gästehäuser und Hotels mussten schließen. Die Rede ist von bis zu 30. In der Altstadt befinden sich unzählige Riad-Hotels. Um einen Innenhof mit Brunnen und Orangenbäumchen gebaut, sind sie bei Touristen besonders beliebt. „Es gab einige Stornierungen, aber erfreulich wenige“, sagt Julia Bartels, die das Riyad El Cadi betreibt. Sie kann alle gebuchten Gäste aufnehmen, nur in einem der fünf Höfe beheben Arbeiter Schäden an einem Dach. Das Mitgefühl sei groß, viele frühere Gäste hätten sich schon besorgt gemeldet, sagt Bartels. Nach der Pandemie kehrten die Touristen in großer Zahl wieder nach Marokko zurück. Fast drei Millionen waren es alleine im ersten Quartal dieses Jahres. Die meisten von ihnen besuchten Marrakesch, viele machen von dort aus auch einen Abstecher ins Atlasgebirge.

Vorbereitungen für die Jahreskonferenz von Weltbank und Internationalem Währungsfonds gehen weiter

In Marrakesch hofft man darauf, schon im Oktober aller Welt zeigen zu können, dass Marokko ein sicheres und attraktives Reiseland geblieben ist. Die Vorbereitungen für die Jahreskonferenz von Weltbank und Internationalem Währungsfonds mit Tausenden Teilnehmern gehen weiter wie geplant. Marokko braucht die gute Zusammenarbeit mit den Gebern jetzt noch mehr: Nach ersten Schätzungen könnten die Schäden sich auf acht Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) belaufen, mehr als zehn Milliarden Euro. Und der Tourismus ist für die Wirtschaft überlebenswichtig – auch für das Unglücksgebiet im Atlasgebirge, das immer mehr Besucher zählte.

Nach einer ersten Übersicht des Onlinemagazins „Medias 24“ wurden fast 30 Baudenkmäler zum Teil schwer beschädigt. Dazu zählt auch das Ksar der befestigten Lehmbausiedlung Aït-Ben-Haddou am Fuß des Atlasgebirges. Der befestigte Welterbe-Ort diente als Kulisse für Filme wie „Lawrence von Arabien“ und „Game of Thrones“. Die Almohaden-Moschee von Tinmal aus dem 12. Jahrhundert war gerade fast fertig renoviert und sollte ebenfalls zum Welterbe erklärt werden. Aber das architektonische Meisterwerk, Vorbild für unzählige Moscheen, liegt ganz nahe am Epizentrum. Laut Unesco wurde die Moschee fast vollständig zerstört. Nur noch wenige intakte Bögen erheben sich aus den Schutthaufen.

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